Dieser Artikel erschien in "evolution", dem Organ der INWO-CH, Ausgaben 8/1995 und 9/1995 (INWO = Internationale Vereinigung für Natürliche Wirtschaftsordnung) und wurde von ihr freundlicherweise diesem Internet-Forum zur Verfügung gestellt. Er wurde in seine elektronische Form gebracht durch: U.Keller in Zürich (DwarfPPE2004@swissonline.ch). "*******" zeigt an, wo der Teil aus der zweiten Ausgabe beginnt; durch das Zusammenfassen in ein Dokument überflüssig gewordene Wiederholungen wurden eliminiert.

DENKFABRIK

GELDSCHÖPFUNG BEI DEN GESCHÄFTSBANKEN
Über dieses Thema haben die Teilnehmer der Denkfabrik im Juni mit Bruno Gehrig, Mitglied der Eidg. Bankenkommission und Professor für Bankwesen an der Hochschule St. Gallen diskutiert. Aus den Gesprächen ging hervor, wie im Bankensystem Buchgeld ohne vorherige Kundeneinlagen geschöpft werden kann. Die Menge geschöpften Buchgeldes hängt dabei wesentlich vom Verhalten der Notenbank ab. Im Unterschied zur Geldschöpfung im Bankensystem wurde über die Gründung einer Bank die Geldschöpfung bei einer einzelnen Bank betrachtet. Weitere wichtige Diskussionspunkte waren: Bankgeschäfte mit und ohne Einfluss auf die Bankbilanz, die Bedeutung der in den Bankbilanzen nicht erfassten Geschäfte (Kreditzusagen, Geschäfte mit Derivaten), die Geldmengensteuerung durch die Notenbank und die Einflüsse auf die Geldumlaufgeschwindigkeit. Der folgende Text wiedergibt nicht nur das in der Denkfabrik Besprochene wieder. Angaben aus anderen Quellen und eigene Schlussfolgerungen sind mit eingeflossen.   Zur Vermeidung von Missverständnissen müssen hier vorerst einige Begriffe geklärt werden: Mit Geld wird hier Notenbankgeld und Buchgeld (Sichtguthaben) bezeichnet. Wie das Notenbankgeld sich zusammensetzt, zeigt Abbildung 1 (Zahlen in Mrd. Fr. gelten für 1993).
Abb.1
Zu Abbildung 1

Wo nötig, wird im Text zwischen Notenbank- und Buchgeld unterschieden. Unter Geldschöpfung ist die Schöpfung sowohl von Notenbankgeld durch die Notenbank als auch von Buchgeld bei den Geschäftsbanken zu verstehen. ln diesem Artikel geht es um die Geldschöpfung bei den Geschäftsbanken. Mit "Bank" sind im folgenden immer nur die Geschäftsbanken (inkl. Post) gemeint.

In der Diskussion zeigte sich, wie wichtig es ist, stets zu unterscheiden zwischen der Geldschöpfung im Bankensystem und bei einer einzelnen Bank. Die Aussagen müssen sich klar auf das eine oder andere beziehen, ansonsten Missverständnisse bzw. falsche Aussagen entstehen.

Wie wird im Bankensystem Buchgeld geschöpft?

Dazu müssen wir die Bilanz eines Bankensystems betrachten. Diese Bilanz ist die Summe aller Bankbilanzen in diesem System. Wir können uns auch alle Banken zu einer Bank zusammengefasst denken. ln der Bilanz in Abbildung 2 sind die Zahlen frei erfunden:

Abb. 2
Zu Abbildung 2

Eine Bilanz zeigt als Aktiva die an einem Stichdatum zur Verfügung stehenden Vermögenswerte. Die Passivseite gibt die Herkunft der Mittel wieder. Daher ist die Summe aller Aktiva stets gleich der Summe aller Passiva. Eine Bilanz ist eine Momentaufnahme: Sie häIt einen momentanen Zustand fest. Dieser ändert sich im Laufe der Zeit ständig.

Im Bankensystem sind, wie in Abbildung 2 auf der Aktivseite ersichtlich, Reserven an Notenbankgeld vorhanden. Sie sind notwendig, um Schwankungen der Bargeldbezüge durch Kunden ausgleichen zu können. Zum Zeitpunkt t0 befindet sich in unserem Modell mehr Notenbankgeld im Bankensystem als an Reserven erforderlich. Dies sind die Überschussreserven. Sie sind Voraussetzung für die Geldschöpfung.

Im Bankensystem wird Buchgeld geschöpft, indem die Kunden Kredite aufnehmen. Dient ein Gut, z.B. ein Grundstück als Pfand, so wird dieses dadurch monetisiert. Die Schöpfenden sind dabei die Kunden und nicht die Banken, wobei die Banken die Geldschöpfung mit Zinssätzen, Sicherheitsanforderungen usw beeinflussen.

Wichtig für das Verstehen der Geldschöpfung ist, dass das Buchgeld das Bankensystem nicht verlässt.

In unserem Bankensystem sind nur 9 Mrd. Fr. an Reserven notwendig, um fünf mal mehr Sichtguthaben, nämlich 45 Mrd. Fr verwalten zu können. Der Reservesatz r ist demnach (9/45) x 100 = 20%.

ln unserem Bankensystem können mit 1 Mrd. Fr. Überschussreserven nicht einfach 5 Mrd. Fr. Kredite geschöpft werden: Ein Teil der vergebenen Kreditsumme wird in bar abgehoben und verlässt das Bankensystem. Wir nehmen an, dass 10% der geschöpften Kredite als Bargeld das Bankensystem verlassen, die Bargeldquote c = 10%. Unter Berücksichtigung dieser Aspekte beträgt der Geldschöpfungsmultiplikator ms

Und: geschöpfte Kreditsumme = ms x Überschussreserven t0.
In unserem Beispiel beträgt der Geldschöpfungsmultiplikator 3,6. Es können aus 1 Mrd. Fr. Überschussreserven Kredite im Wert von 3,6 Mrd. Fr. geschöpft werden. 10% oder 0,36 Mrd. Fr. davon werden bar abgehoben. Es bleiben 3,24 Mrd. Fr. Sichtguthaben im Bankensystem, ob auf dem Konto der Kreditnehmer selbst oder auf Konti, auf denen die Kreditnehmer ihre Kredite überwiesen haben (vgl. Abbildung 3 mit Abbildung 2)

Abb. 3
Zu Abbildung 3

Der Reservesatz r ist mit (9,64/48,24) x 100 = 20% gleich geblieben. Würden mit 1 Mrd. Fr. Überschussreserven Kredite im Wert von 5 Mrd. Fr. geschöpft, verliessen 0,5 Mrd. Fr. Notenbankgeld das Bankensystem, womit nur noch 0,5 Mrd. zu den Reserven geschlagen werden könnten, was ein Reservesatz von (9+0,5/45+5) x 100 = 19% zur Folge hätte. Das Bankensystem würde illiquide. Es besässe zuwenig Reserven, um den schwankenden Bargeldansprüchen der Kunden mit Sicherheit nachkommen zu können.

Wir stellen fest, dass die geschöpften Kredite sich ihre Einlagen auf der Passivseite sofort selber schaffen. Die Kundeneinlagen wachsen mit den Krediten mit ! Die Buchgelder fliessen natürlich von Konto zu Konto, sind also stets in Bewegung, in Umlauf, was aber in der Bilanz nicht zum Ausdruck kommt.

Die Banken müssen die Zinsen aus den geschöpften Krediten (Aktiva) weitergeben. Sie behalten nur die Zinsdifferenz: Die Banken erhalten von den Kreditnehmern sog. Aktivzinsen. Den Bankkunden auf der Passivseite werden die sog. Passivzinsen vergütet. Mit der Differenz zwischen Aktiv- und Passiv-zinsen wird das Bankensystem finanziert, inkl. Profit eben.

In der Denkfabrik hat sich wieder gezeigt, wie die Formulierung, die Geschäftsbanken schöpfen (Buch)geld aus dem Nichts, nicht nur nichts zur Sache beiträgt, sondern Missverständnisse und Fehlvorstellungen erzeugt. Die Banken bzw. Bankkunden schöpfen Geld nicht aus dem Nichts, sondern aus Überschussreserven, also aus Notenbankgeldbeständen. Wie aber das Wort "schöpfen" hier impliziert, entsteht daraus neues Geld, neue Kaufkraft.

Die Geldvernichtung (ein offizieller Begriff) verläuft genau umgekehrt zur Geldschöpfung: Kredite werden von den Kunden getilgt, und zwar wiederum im Durchschnitt zu 10% mit Bargeld und zu 90% mit Sichtguthaben. Die Überschussreserven nehmen zu und die Sichtguthabenbestände nehmen, werden sie zur Kredittilgung eingesetzt, ab. Die neuen Überschussreserven werden durch Geldschöpfen wieder abgebaut, wobei wiederum Notenbankgeld das Bankensystem verlässt. Dieses Notenbankgeld dient (statistisch gesehen) wieder der Kredittilgung, womit Überschussreserven angelegt werden usw.

Im Bankensystem laufen ständig Tausende solcher Prozesse ab. Es werden ständig Überschussreserven abgebaut und angelegt und Sichtguthaben geschöpft und vernichtet. Geldschöpfung im Bankensystem bedeutet also nicht eine grenzenlose Ausweitung der Buchgeldbestände und damit die grenzenlose Schaffung neuer Kaufkraft.

Wie kann dank Geldschöpfung neue Kaufkraft ohne vorherige Geldvernichtung entstehen? Es müssen Überschussreserven gebildet werden an Notenbankgeld, welches nicht aus der Kreditrückzahlung stammt! Es gibt dazu drei Möglichkeiten:

  1. Die Notenbank versorgt das Bankensystem mit neuem Notenbankgeld: Die Notenbank kauft dem Bankensystem Aktiva ab (z.B. Wertschriften) oder erteilt dem Bankensystem mehr Notenbankgeld-Kredite (Diskontkredite, Lombardkredite). Das neu im Bankensystem eingeflossene Notenbankgeld wird zu Überschussreserven. Durch Geldschöpfung entsteht neue Kaufkraft, und zwar mehr als Notenbankgeld geschaffen wurde.
  2. Die Bankkunden nützen immer mehr den bargeldlosen Zahlungsverkehr: Die Bankkunden beziehen weniger Bargeld. Bargeldquote und Reservebedarf sinken. Gemäss obiger Formel steigt der Geldschöpfungsmultiplikator.
  3. Veränderungen der Handelseinrichtungen wie z.B. die Einführung 1988 des Swiss Interbank Clearing System (Clearing = engI. Abrechnung) können den Bedarf an Reserven verringern, d.h., ein Teil der Reserven werden überschüssig. Der Abbau der Reserven erfolgt durch Geldschöpfen.
In diesen drei Fällen wird durch Geldschöpfen neue Kaufkraft geschaffen, wird Geld in Umlauf gesetzt, bevor dafür gespart hätte werden müssen. Die Ersparnisse, d.h. die Kundeneinlagen auf der Passivseite entstehen mit dem Geldschöpfen.
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Wie kann die Notenbank, wenn durch Geldschöpfung neue Kaufkraft geschaffen wird, z. B. Geld in Umlauf gesetzt wird, bevor dafür hätte gespart werden müssen, die Ausweitung der Sichtguthabenbestände begrenzen oder sogar den Sichtguthabenbestand bei Bedarf reduzieren? Sie verringert die Notenbankgeldmenge. Sie verkauft dem Bankensystem Wertschriften (Offenmarktpolitik) oder Fremdwährungen gegen Notenbankgeld und zieht dieses aus dem Verkehr, d.h., sie entzieht letztlich dem Bankensystem Notenbankgeld aus den Überschussreserven. Beabsichtigt die Notenbank die Sichtguthabenbestände zu reduzieren, wird das Kreditgeschäft durch Entzug von Überschussreserven abgemurkst, demzufolge im Bankensystem die Geldvernichtung nicht mehr durch Geldschöpfen kompensiert werden kann. Es überwiegt dann die Geldvernichtung, das Kreditpotential wird knapp und die Zinsen steigen (was über die [Miet]Zins-Preis-Spirale die Inflation anheizt). Versteht man diesen Mechanismus, wird klar, warum die Bekämpfung der Inflation nur langsam greift und mit grossen konjunkturellen Einbussen einhergeht. Die Frage lautet, ob die Notenbank die nachfragewirksame Geldmenge M1 (= Sichtguthaben + Bargeldumlauf siehe Def.) trotz Geldschöpfung bei den Geschäftsbanken dem Sozialprodukt anpassen und unerwünschte Schwankungen der Geldmenge M1 verhindern kann. Laut Prof. Gehrig hat die Notenbank die Entwicklung der Geldmenge M1 gut im Griff. Die Notenbank kann die Notenbankgeldmenge genau bestimmen. Sie hat damit Einfluss auf die Menge Überschussreserven und damit auf die Geldschöpfung und -vernichtung. Schwankungen der Bargeldquote sowie des Reservesatzes (Punkt 2 und 3) seien gering. Die Notenbank könne die Entwicklung im voraus abschätzen und frühzeitig die Notenbankgeldmenge anpassen. Allerdings habe die Notenbank 1988 die Wirkung des Swiss Interbank Clearing auf den Reservesatz unterschätzt, was, zusammen mit der Geldspritze 1987 anlässlich des Börsenkrachs, zur Inflation Ende 80er Jahren beitrug. Die Ursache dieser Inflation ist also teilweise doch auf eine ungenügende Steuerungsmöglichkeit der Geldmenge M1 zurückzuführen. Aus freiwirtschaftlicher Sicht müsste die Notenbank die Entwicklung der Geldmenge M1 stets genau und mit möglichst wenig Verzögerung bestimmen und unerwartete Schwankungen mit Sicherheit verhindern können. Gemäss Herrn Prof. Gehrig schwankt die Geldschöpfungstätigkeit im Bankensystem mit den Zinssätzen. Bei hohen Zinssätzen würden die Überschussreserven vermehrt abgebaut. Im Bankensystem werden offenbar nicht immer aIle Überschussreserven voll zur Geldschöpfung genutzt. Die Banken lassen die Überschussreserven zeitweise anwachsen, um dann möglichst viel Kredite bei hohen Zinssätzen schöpfen lassen zu können. Beim Rückgang der Aktiv- und Passivzinssätze müssen dann die Kreditnehmer festverzinslicher Kredite (Althypotheken !) deutlich höhere Aktivzinsen zahlen, als sie zu den inzwischen gesunkenen Zinssätzen zahlen müssten. So steigt für die Banken in dieser Zeit, in der sie hohe Aktivzinsen einnehmen und tiefe Passivzinsen zahlen, der Ertrag aus der Zinsdifferenz. Verzögert ein solches Verhalten nicht die Wirkung der antiinflationären Politik der Notenbank und belasten die hohen Zinsen nicht die Volkswirtschaft ? Ist das zyklische Nicht-GeIdschöpfen und Vermehrt-Geldschöpfen der Geschäftsbanken eine neue Form des Geldhortens und Enthortens ? Auf das bekannte Berechnungsbeispiel des mehrfach ausgeliehenen Geldes (siehe z.B. Thomas Estermann, "Alternative Geldmodelle", 1993, S. 30f.) wurde nicht näher eingegangen. Diese Beispiele sind auch höchst ungeeignet, um Fehlvorstellungen und Missverständnissen vorzubeugen, weil damit nur ein Vorgang und nicht die sich summierenden, eben auch umgekehrt ablaufenden, tausende von Vorgängen erfasst werden.

Woran ist das Geldschöpfen bei Geschäftsbanken sichtbar?

Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir zuerst genau verstehen, was mit Geldschöpfen bei den Geschäftsbanken gemeint ist. Als erstes gilt es, sich hier im klaren zu sein, dass mit dem Begriff Geld auch Buchgeld gemeint ist. Dieses Buchgeld untersteht im Unterschied zum Bargeld zwar nicht einem Annahmezwang, erfüllt ansonsten aber alle drei klassischen Geldfunktionen (Tauschmittel, Wertaufbewahrungsmittel, Preismassstab). Es ist trotz fehlendem Annahmezwang eine allgemein akzeptierte Anspruchsberechtigung an das Sozialprodukt. Dies ist möglich, weil das Buchgeld auf Verlangen der Kunden von den Banken 1:1 (dadurch Erhalt der Funktion als Preismassstab!) in Notenbankgeld umgewandelt wird. Ohne diese Umwandelbarkeit wäre das Vertrauen ins Geld, das man auf einem Bankkonto liegen hat, viel geringer und nur wenige Menschen würden sich dieses Zahlungsmittels bedienen. Um dieses Vertrauen der Kunden zu gewinnen, müssen sich die Banken an gewisse Regeln halten. Insbesondere müssen sie stets über genügend Notenbankgeld verfügen, womit sie abhängig werden von der Geldmengenpolitik der Notenbank. Die Notenbank nützt diese Abhängigkeit, um die Geldmenge M1 zu kontrollieren. Helmut Creutz vergleicht die Geldschöpfung bei den Banken mit einem Geschäftsmann, der reinen Gewissens Falschgeld produziert, weil irgendwann die Kunden mit dem Falschgeld auch wieder in seinem Laden einkaufen werden (siehe Helmut Creutz, "Das Geldsyndrom", 1993, S.158). Damit der Vergleich einigermassen stimmt, müsste der Geschäftsmann klar angeben, dass das von ihm geschöpfte Geld nicht von der Notenbank stammt, aber er bereit ist, dieses Geld jederzeit 1:1 in Notenbankgeld umzutauschen. Helmut Creutz schreibt weiter, dass wenn es bei uns eine Geld- oder Kreditschöpfung durch die Banken gäbe, wir längst eine trabende bis galoppierende Inflation haben müssten. Wie ersichtlich, verhindern dies Reservesatz und Bargeldquote. Er stellt weiter fest, die Banken in den 50er Jahren konnten keine Kredite gewähren, und die Banken begründeten dies mit der Aussage: Wir haben zur Zeit keine Mittel. Helmut Creutz schliesst daraus: "Offensichtlich wussten die Banken damals noch nichts von ihrer "Schöpfungsfähigkeit". Aber eben, wenn im Bankensystem Überschussreserven fehlen, sind die Banken nicht schöpfungsfähig, auch wenn sie davon wissen. ln der evolution Nr. 1O, Oktober 1994, S. 3, Tabelle 1, will Helmut Creutz anhand der Bankenbilanz der bundesdeutschen Kreditinstitute zeigen, dass daraus keine Geldschöpfung sichtbar wird. Der Vergleich von Aktiva und Passiva, wie ihn Helmut Creutz vornimmt, bedeutete etwa, in Abbildung 3 dieses Artikels, die Kredite (= 838,6 Mrd. Fr.) mit den Passiva (= Sichtguthaben + andere Kundenguthaben + Eigenkapital = 848,24 Mrd. Fr.) zu vergleichen. Dass die Kreditsumme kleiner ausfällt als die Passiva, wertet Helmut Creutz als Hinweis für das Fehlen einer Geldschöpfung bei Banken. Damit lässt sich jedoch nichts über die Geldschöpfung aussagen. Unter Geldschöpfung bei Geschäftsbanken versteht man den Vorgang, wie aus einer bestimmten Menge Notenbankgeld mehr Buchgeld geschaffen werden kann. Eine Geldschöpfung bei Banken gibt es, falls die Geldmenge M1 grösser ist als die Notenbankgeldmenge. Dies bedeutet nämlich, dass sich mehr Geld in Umlauf befindet, als von der Notenbank in Umlauf gebracht wurde (siehe Abbildung 4).

Abb. 4
1980 bzw. 1990 betrug die Geldmenge M1 1,89 bzw. 2,77 mal die Notenbankgeldmenge. Das Bankensystem konnte 1993 mit weniger Notenbankgeld mehr Sichtguthaben verwalten als 1980: Der Reservesatz nahm deutlich ab. Von 1980 bis 1993 sanken die Reserven an Notenbankgeld im Bankensystem von 8,6 auf 4,1 Mrd. Fr. (Schweizerische Nationalbank, Monatsbericht Juni 1994, S. 32 + 34), während M1 um 1,48 mal oder 67% zunahm.

Was bedeutet Sparen in Bezug auf die Geldschöpfung?

Sparen bedeutet normalerweise, dass die Bankkunden ihre Gelder längerfristig anlegen, also nicht in Sichtguthaben. Die Kunden verzichten dabei, jederzeit über ihr ganzes Vermögen verfügen zu können (Abhebungslimite, Kündigungsfrist). Das Bankensystem muss für Spargelder weniger Reserven halten. Auf 10O Fr. Sichtguthaben müssen die Banken eher annehmen, dass jederzeit ein Teil in bar abgehoben wird, der Reservesatz ist hoch. Auf 100 Fr. Spareinlagen ist ein Bargeldbezug weniger wahrscheinlich, der Reservesatz ist niedrig. Das Sparen und der damit verbundene Liquiditätsverzicht verwandelt also Reserven in Überschussreserven, woraus Kredite geschöpft werden können. Dabei entsteht keine neue Kaufkraft, lediglich die Liquidität der Sparer wird weitergegeben. Die Geldumlaufsgeschwindigkeit wird gegenüber einer Situation, in der nicht benötigte Liquidität nicht weitergegeben würde, erhöht.

Das spekulative Umschichten von Gelder von langfristigen zu kurzfristigen Einlagen beeinflusst die Geldumlaufgeschwindigkeit: Wird z.B. plötzlich statt auf Sparkonti vermehrt auf Sichtguthabenkonti gespart, blockiert dies die Weitergabe von nicht benötigter Liquidität. Ein Umlaufstreik von Liquidität beruht also nicht nur auf Bargeldhortung. Wie im Artikel "Inflation und Neutralgeld - eine Gegenüberstellung" (evolution Nr. 4 / Apr. 95) dargestellt, schichten z. B. bei drohender Inflation die Anleger ihre Gelder von lang- nach kurzfristigen Positionen um, das Kreditpotential sinkt und die Zinsen steigen (was die Inflation noch verstärkt). Dieses spekulative "Umschichten" muss wegen dem Einfluss auf die Geldumlaufgeschwindigkeit in Zukunft verhindert werden können. Liquiditätsabgaben auf die Reserven und auf Buch- und Notenbankgeld wären zu diskutierende Mittel.

Geldschöpfung aus der Sicht der einzelnen Banken

Im wesentlichen beruht die Geldschöpfung bei einer einzelnen Geschäftsbank auf demselben Prinzip. Die Bank muss sowohl Reservesatz als auch Bargeldquote bei der Kreditvergabe beachten. Für die verschiedenen Bankinstitute fallen diese Grössen sehr unterschiedlich aus. lm Bankensystem schaffen sich die Kredite ihre Einlagen automatisch selbst. Für die einzelne Bank gilt dieser Sachverhalt nicht. Das Buchgeld kann die einzelne Bank verlassen. Betrachten wir die Bilanz in Abbildung 2 als die Bilanz einer Bank innerhalb des Bankensystems: Die Kunden können ihre Einlagen (Passiva) auf das Konto einer anderen Bank überweisen. Aus der Sicht der einzelnen Bank begrenzen Kundeneinlagen die Kreditvergabe. Legen die Kunden viel Geld bei ihr an, kann sie auch viel Kredit vergeben. Das ist auch der Standpunkt von Helmut Creutz.

Die einzelne Bank merkt eben nicht, wenn neue Kaufkraft geschöpft wird. Beispiel: Die Notenbank kauft mit Notenbankgeld bei der Bank A Wertschriften (Aktiva) für 1O0 Fr. Bank A besitzt nun 100 Fr. Überschussreserven. Sie vergibt damit Kredite im Wert von 100 Fr. Ein Teil der Kreditsumme wird bar abgehoben, ein Teil landet letztlich auf Konti ihrer Kunden, ein Teil wird auf Konti in anderen Banken überwiesen. Die Banken beleihen sich gegenseitig mit Notenbankgeld. ln unserem Beispiel benötigt Bank A bei der Vergabe von 100 Fr. Kredite Notenbankgeld für die Bargeldquote und für die Reserven für die bei ihr neu entstandenen Kundeneinlagen. Das nicht benötigte Notenbankgeld wird den anderen Banken zur Verfügung gestellt. Sie können also wie Bank A Kredite vergeben, wobei wiederum Notenbankgeld übrig bleibt usw. Die von der Notenbank bereitgestellten 100 Fr. Überschussreserven werden abgebaut und die Kundeneinlagen nehmen entsprechend dem Geldschöpfungsmultiplikator zu. Wichtig zum Verständnis ist: Ein Teil der Buchgelder, die bei Bank A entstanden sind, fliessen den anderen Banken zu, während der Bank A Kundengelder zufliessen, welche bei den anderen Banken entstanden sind. Wie die Geldschöpfung bei den einzelnen Banken vor sich geht, ist schwierig zu fassen, weil gleichzeitig viele Prozesse ablaufen. Gleichzeitig fliessen einer Bank Kundengeldern zu und ab und gleichzeitig werden Kredite vergeben und zurückbezahlt. Wir können einfach sagen: Kommt es zur Geldmengenausweitung durch Geldschöpfung, vergeben die Banken, dank vorhandenen Überschussreserven, im Schnitt mehr Kredite als Kredite zurückbezahlt werden. Gleichzeitig fliessen den Banken pro Zeiteinheit durchschnittlich mehr Kundengeldern zu als ab.

Sind die neuen Überschussreserven aufgebraucht, können, wegen Bargeldquote und Reservesatz, nicht mehr Kredite vergeben werden, als Kredite zurückbezahlt werden. Den Banken fliessen in dieser Situation im Schnitt auch nicht mehr Kundeneinlagen zu als ab. Wonach sich die einzelne Bank bei der Kreditvergabe richtet, ist der Zufluss an Kundengeldern. Ob dieser bei ihr zunimmt, weil Überschussreserven abgebaut werden, also Buchgeld geschöpft wird, oder weil bei anderen Banken die Kundeneinlagen entsprechend abnehmen, sieht die einzelne Bank nicht unmittelbar. Sie muss es den Notenbankstatistiken entnehmen.

Eine Bank muss noch einen entscheidenden Punkt beachten: Überwiegen unter den Aktiven die langfristigen Kredite, müssen auf der Passivseite auch die langfristigen Einlagen überwiegen. D.h., die durchschnittliche Laufzeit der Aktiva und Passiva muss übereinstimmen. Eine Bank darf nicht einerseits vor allem langfristige Kredite vergeben und andererseits vor allem kurzfristige Passiva halten. Die Banken werden von einem Aufsichtsorgan überprüft, ob die Laufzeiten von Aktiva und Passiva übereinstimmen. Konsequenz: Schichten die Sparer ihre Gelder von langnach kurzfristigen Positionen um, können die Banken weniger langfristige Kredite vergeben.

Nicht bilanzwirksame Bankgeschäfte

Dazu gehören die Kreditzusagen. Erhält jemand die Zusage einer Kreditlimite, ohne diese zu beanspruchen, wird diese Kreditzusage in der Bilanz nicht sichtbar. Die Bank hält aber für den Fall, dass der Kunde den Kredit in Anspruch nimmt, Reserven bereit.

Der Handel einer Bank mit Derivaten kommt in einer Bankbilanz nirgends zum Vorschein. Ein derivatives Produkt ist ein abgeleitetes Finanzinstrument bzw. eine Art Vertrag, der gehandelt wird und dessen Wert von einem Basisprodukt wie Aktien, Obligationen, Währungen, Zinssätzen, Rohstoffen oder Indizes (z.B. Börsenindizes) abhängt. Derivate können vereinfacht als Versicherungsverträge gegen (Preis)schwankungen (Versicherungsmotiv) oder als Wette auf (Preis)schwankungen (Spekulationsmotiv) verstanden werden. (Die drei Schweizer Grossbanken gehören zu den weltweit grössten Operateuren im Derivatengeschäft. Die derivativen Produkte haben weltweit Anfangs 1995 ein Volumen von 10 000 Mrd. Dollar erreicht.) Die Eidgenössische Bankenkommission (EBK) wacht über den Handel mit Derivaten. Laut Prof. Gehrig hat die EBK neulich Transparenz geschaffen, in dem die Banken ihre Geschäfte mit Derivaten vorweisen müssen. Diese Geschäfte werden in einer zusätzlichen Publikation der Schweizerischen Nationalbank erfasst. Gemäss Prof. Gehrig sind für die Banken die nicht bilanzwirksamen Geschäfte genauso von Bedeutung wie die bilanzwirksamen.

Schwankungen der Geldumlaufgeschwindigkeit

Spricht die Notenbank von Schwankungen der Umlaufgeschwindigkeit, bezieht sich dies auf die Quantitätsgleichung, die auch Silvio Gesell bekannt war (wobei die entscheidende Geldmenge bei Gesell noch die Notenbankgeldmenge war) : nachfragewirksame Geldmenge (heute M1) x Umlaufgeschwindigkeit = Preisniveau x reales Sozialprodukt. Die Werte von M1, Sozialprodukt und Preisniveau sind bekannt. Die Geldumlaufgeschwindigkeit wird berechnet. Schwanken M1 und das Sozialprodukt nicht, bedeuten Schwankungen des Preisniveaus eine schwankende Umlaufgeschwindigkeit. Laut Prof Gehrig ist der Einfluss auf die Umlaufgeschwindigkeit durch Bargeldhortung vernachlässigbar. Als Problem nannte er den Devisenhandel und Währungsprobleme. An einer Veranstaltung im Herbst 1994 erwähnte er auch das "Umschichten" der Anleger als Ursache von Schwankungen der Umlaufgeschwindigkeit. Die Denkfabrik hat gezeigt, dass die GeIdversorgung der Wirtschaft heute nicht zufriedenstellend gelöst ist und dass aus der Lehre Silvio Gesells sich heute noch gültige Fragen und Forderungen auf diesem Gebiet ergeben. Die Antworten entsprechen dem Sinn nach der Lehre Silvio Gesells, die Argumente haben sich aber konsequent den heutigen Gegebenheiten anzupassen. Zeichnet denn diese Konsequenz nicht gerade die Lehre Silvio Gesells aus ?

CLAUDE-ALAIN PERROCHET
Claude-Alain Perrochet betreut zur Zeit die Denkfabrik der INWO.